Diagnostik von ADHS bei Mädchen und Frauen

Bevor Mädchen und Frauen eine Diagnostik wegen ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) in Anspruch nehmen, stehen oft andere Themen bzw. Verdachtsdiagnosen im Vordergrund.

ADHS bei Frauen: Einfach anders

Mädchen und Frauen mit ADHS werden bei psychosozialen Fachkräften häufig aufgrund emotionaler Schwierigkeiten, wie Ängsten oder Depressionen, die oft in Folge oder gemeinsam mit ADHS auftreten, vorstellig. Dies erschwert die Differentialdiagnostik (= Ausschluss von ähnlichen Symptombildern), wodurch ADHS bei weiblichen Personen oft nicht oder erst sehr spät erkannt wird.

Eine weitere Herausforderung stellt das von Männern abweichende klinische Erscheinungsbild dar. Mädchen und Frauen mit ADHS zeigen stärker unaufmerksame Merkmale (z.B. Tagträumen) und weniger, die bei Männern dominanten, hyperaktiven oder impulsiven Verhaltensweisen. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Merkmale bei Frauen nicht vorhanden sind. Vielmehr zeigt sich Hyperaktivität bei Frauen mit ADHS durch Gedankenrasen oder einen Kopf, der niemals „ruhig“ ist. Da dies weniger augenscheinlich ist und die meisten Personen bei ADHS an den sogenannten “Zappelphilipp” denken, werden Mädchen und Frauen seltener an entsprechende Fachkräfte überwiesen bzw. die eigentliche Thematik nicht erkannt. 

Auch die psychosozialen Auswirkungen von ADHS unterscheiden sich zwischen Männern und Frauen. Im Gegensatz zu Buben und Männern zeigen Mädchen und Frauen mit ADHS einen geringeren Selbstwert, haben vermehrt Schwierigkeiten in Freund- und Partnerschaften und ein höheres Risiko für affektive Störungen (Depression, Angst). Ebenso zeigen sie, ähnlich wie autistische Mädchen und Frauen, die Verwendung von Methoden, die ADHS-spezifische Verhaltensweisen überdecken sollen (Masking) und verwenden häufig ungünstige Stressverarbeitungsstrategien. In einer Meta-Analyse von Attoe und Climie (2023) beschrieben Frauen zudem, dass sie wenig Kontrolle, sowohl über ihr eigenes Leben als auch ihre Emotionen, verspüren. Dabei werden Erfolge von ihnen eher externalisiert (=Umgebungsfaktoren zugeschrieben) und Misserfolge internalisiert (=dem eigenen Versagen zugeschrieben), was den Selbstwert weiter verringert und das Gefühl des Kontrollverlusts oft verstärkt.

ADHS-Diagnose: Je früher, desto besser

Eine Erfahrung, die wir in unserer täglichen Arbeit machen und in der Meta-Analyse von Attoe und Climie (2023) beschrieben wird, ist die Erleichterung nach der Diagnose - viele Mädchen und Frauen beschreiben dies auch als „lightbulb“-Moment. Die Diagnose bietet für viele Mädchen und Frauen ein Erklärungsmodell für ihre Schwierigkeiten, aber auch für ihre Stärken, wodurch die Selbstbeschuldigung abnimmt und sie ihre Situation als kontrollierbarer erleben. Dies führt dazu , dass sie viele Dinge besser akzeptieren können und das Risiko für psychische Erkrankungen, wie beispielsweise Depressionen, verringert werden kann. Je früher dabei die Diagnose gestellt wird, desto mehr Kontrolle und Verständnis entwickelt sich (idealerweise) bei Mädchen und Frauen mit ADHS sowie ihrem Umfeld.

Dies erfordert, neben einem ausführlichen Erstgespräch, der Anwendung standardisierter Tests und Fragebögen sowie dem Einholen einer oder mehrerer Außenperspektiven, Erfahrung und Fachwissen. In unserer Praxis legen wir im diagnostischen Prozess viel Wert darauf, auch “out of the box” zu denken und die Besonderheiten und Stärken von Mädchen und Frauen mit ADHS entsprechend zu berücksichtigen.

 

Quelle: Attoe, D., & Climie, E. (2023). Miss. Diagnosis: A Systematic Review of ADHD in Adult Women. Journal of Attention Disorders, 27(7), 645-657.

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