Autismus bei Mädchen und Frauen
Ergebnisse aus Forschung und Praxis der letzten Jahre zeigen eines immer deutlicher: Autismus präsentiert sich bei Mädchen und Frauen anders als bei Buben und Männern. Diese Unterschiede in der Symptomatik und im Verhalten führen häufig zu Missverständnissen und späten bzw. (Fehl-) Diagnosen, wie beispielsweise bipolaren Störungen, sozialen Phobien, Depression oder Persönlichkeitsstörungen, bei Autistinnen.
Autismus wird bisher deutlich häufiger bei Buben und Männern diagnostiziert, was daran liegen könnte, dass Mädchen und Frauen oft andere Verhaltensweisen zeigen, die im Rahmen einer Diagnostik leichter übersehen werden (Glidden, 2016). Autistische Mädchen und Frauen neigen eher dazu, autistische Züge (unbewusst oder bewusst) zu verdecken bzw. zu überspielen oder, nach sorgfältiger Beobachtung, soziale Konventionen zu imitieren – ein Prozess der als „Masking“ bekannt ist (Hull et al., 2019). Zudem tendieren sie dazu, sich häufiger zu entschuldigen oder in zwischenmenschlichen Interaktionen zurückhaltender zu sein, was möglicherweise zu weniger Schwierigkeiten in sozialen Kontexten führt (Bulhak-Paterson, 2015). Ein weiterer Unterschied liegt in den sogenannten „Spezialinteressen“. Autistische Mädchen und Frauen vertiefen sich eher in Interessen, die als „normal“ für ihr Alter angesehen werden und/oder sozial ausgerichtet sind (Attwood, 2012).
Simcoe und Kolleg:innen (2023) beschreiben beispielsweise, dass Mädchen sich von Buben im Autismus-Spektrum vor allem durch stärkere Ausprägungen im Bereich der Reizwahrnehmung (Q-ASC; Attwood et al., 2011) oder des „Maskings“ unterscheiden. Außerdem zeigen Mädchen im Autismus-Spektrum höhere Werte als nicht-autistische Mädchen im Bereich der Verhaltensauffälligkeiten, da sie zum Beispiel (vermeintlich) unverhältnismäßig starke emotionale Reaktionen zeigen oder seltener Aufforderungen ihrer Erziehungsberechtigten befolgen.
Insgesamt führen diese Besonderheiten dazu, dass die Bedürfnisse und Herausforderungen von autistischen Frauen und Mädchen oft übersehen werden, wodurch der Zugang zu unterstützenden Dienstleistungen und einer frühzeitigen Diagnose erschwert wird. Eine richtige und vor allem frühe Diagnosestellung führt jedoch dazu, dass entsprechende Unterstützungsmaßnahmen und eine Adaption des Umfelds vorgenommen werden können, die mit einer Erhöhung des Wohlbefindens bei Autistinnen einhergehen.
Für die Diagnostik ist es entscheidend, diese Unterschiede zu erkennen und in der Diagnosestellung und Behandlung zu berücksichtigen - worauf wir uns als Klinische Psychologinnen bei Praxis Kompass spezialisiert haben. Durch ein besseres Verständnis der spezifischen Merkmale und Herausforderungen, mit denen weibliche autistische Personen konfrontiert sind, kann die notwendige Unterstützung geboten werden, um so eine Steigerung der Lebensqualität von Autistinnen zu erreichen.
Quellen:
Attwood, T. (2012). Girls and women who have Asperger’s syndrome. Safety skills for Asperger women: How to save a perfectly good female life. London: Jessica Kingsley Publishers.
Attwood, T., Garnett, M., & Rynkiewicz, A. (2011). Questionnaire for Autism Spectrum Conditions (Q-ASC) [Measurement instrument].
Bulhak-Peterson, D. (2015). I am an Aspe Girl: A book for young girls with autism spectrum conditions. London: Jessica Kingsley Publishers.
Glidden, D., Bouman, W., Jones, B., & Arcelus, J. (2016). Gender Dysphoria and Autism Spectrum Disorder: A Systematic Review of the Literature. Sexual Medicine Reviews, 4(1), 3-14.
Hull, L., Lai, M., Baron-Cohen, S., Allison, C., Smith, P., Petrides, K., & Mandy, W. (2019). Gender differences in self-reported camouflaging in autistic and non-autistic adults. Autism, 24, 352-363.
Simcoe, S., Gilmour, J., Garnett, M., Attwood, T., Donovan, C., & Kelly, A. (2023) - Are there gender-based variations in the presentation of Autism amongst female and male children? Journal of Autism and Developmental Disorders, 53, 3627-3635.